Die Religion
Auszug aus dem Buch “Der innere Blick”, Silo 1) Aus dem Kapitel XII, “Die Religion”, aus “Die menschliche Landschaft”3. Über Gott kann man nichts sagen. Man kann lediglich darüber etwas sagen, was über Gott gesagt wurde. Es wurden schon viele Dinge über ihn gesagt und über das Gesagte kann wiederum viel gesagt werden, ohne dass wir damit auch nur einen Schritt weiter bezüglich des Themas Gott kommen, sofern es Gott selbst betrifft. 4. Unabhängig von diesen Zungenbrechern können die Religionen von tiefer Bedeutung sein, aber nur, sofern sie versuchen, Gott zu zeigen und nicht über ihn etwas zu sagen. 5. Aber die Religionen zeigen das, was in ihren jeweiligen Landschaften vorhanden ist. Deshalb ist eine Religion weder wahr noch falsch, da ihr Wert ja kein logischer ist. Ihr Wert wurzelt in der Art von innerer Empfindung, die sie hervorruft, in der Übereinstimmung der Landschaften bezüglich dessen, was zu zeigen versucht wird und was tatsächlich gezeigt wird. 6. Die religiöse Literatur ist für gewöhnlich an äußere und menschliche Landschaften gebunden, die auch die Eigenschaften und Merkmale ihrer Götter prägen. Doch auch wenn sich die äußeren und menschlichen Landschaften verändern, kann die religiöse Literatur in andere Epochen vorstoßen. Das ist nicht verwunderlich, da auch andere (nicht-religiöse) Arten von Literatur in voneinander weit entfernten Epochen mit Interesse und lebendigem Gefühl aufgenommen werden können. Ebenso wenig sagt das Fortdauern eines Kultes über den Lauf der Zeit etwas über seinen «Wahrheitsgehalt» aus, da rechtliche Formalitäten und gesellschaftliche Zeremonien von Kultur zu Kultur weitergegeben und weiter befolgt werden, auch wenn man ihre ursprüngliche Bedeutung nicht mehr kennt. 7. Die Religionen brechen in eine menschliche Landschaft und in eine geschichtliche Epoche ein. Man spricht dann davon, dass Gott sich dem Menschen «offenbart». Aber etwas muss in der inneren Landschaft des Menschen geschehen sein, damit in diesem geschichtlichen Moment eben diese Offenbarung aufgenommen wird. Dieser Wandel wurde im allgemeinen von «außerhalb» des Menschen aus interpretiert, indem man den Wandel in der äußeren oder gesellschaftlichen Welt ansiedelte. Das stellte sich bezüglich einiger Aspekte als Gewinn heraus, doch man verlor auch an Verständnis des religiösen Phänomens als innere Empfindung. 8. Aber auch die Religionen selbst haben sich als Äußerlichkeit vorgestellt und so den Boden für die vorher erwähnten Interpretationen bereitet. 9. Wenn ich von «äußerer Religion» spreche, dann beziehe ich mich nicht auf die psychischen Bilder, die in Form von Ikonen, Gemälden, Statuen, Bauwerken und Reliquien (welche die visuelle Wahrnehmung ansprechen) nach außen übertragen wurden. Ich meine auch nicht deren Übertragung auf Gesänge und Gebete (welche den Gehörsinn ansprechen) oder auf Gesten, Haltungen und Ausrichtungen des Körpers in bestimmte Richtungen (welche die kinästhetische und synästhetische Wahrnehmung ansprechen). Und schließlich sage ich auch nicht, dass eine Religion wegen ihrer heiligen Schriften, Sakramente usw. äußerlich ist. Ich bezeichne eine Religion nicht einmal deshalb als äußerlich, weil sie ihrer Liturgie eine Kirche, eine Organisation, kultische Feiertage usw. hinzufügt oder auch eine bestimmte körperliche Verfassung oder ein bestimmtes Alter ihrer Gläubigen fordert, um bestimmte Vorgänge ausführen zu können. Nein, diese Art, wie die Anhänger der einen oder anderen Religion weltlich gegeneinander kämpfen, indem sie sich – je nach dem bevorzugten Bild, mit welchem die einen oder die anderen arbeiten – gegenseitig verschiedene Tiefen von Gottesverehrung unterstellen, berührt den Kernpunkt der ganzen Angelegenheit nicht. Sie zeigt lediglich die völlige psychologische Unwissenheit der Streitenden. 10. Mit «äußerer Religion» bezeichne ich jede Religion, die den Anspruch erhebt, über Gott und den Willen Gottes etwas zu sagen, anstelle etwas über das Religiöse und über das innerste Empfinden des Menschen zu sagen. Selbst die Verwendung eines veräußerlichten Kultes wäre sinnvoll, wenn die Gläubigen durch diese Praktiken die Anwesenheit Gottes in sich selbst wecken (zeigen) würden. 11. Aber die Tatsache, dass die Religionen bis heute äußerlich waren, entspricht der menschlichen Landschaft, in welcher sie entstanden und sich entwickelten. Die Geburt einer inneren Religion oder die Verwandlung der Religionen (falls sie überleben sollten) in eine innere Religiosität ist möglich. Doch das wird nur in dem Maße geschehen, wie die innere Landschaft die Voraussetzungen erfüllt, um eine neue Offenbarung aufzunehmen. Dies wiederum beginnt sich in denjenigen Gesellschaften abzuzeichnen, in welchen die menschliche Landschaft derart ernsthafte Wandlungen erfährt, dass das Bedürfnis nach inneren Bezugspunkten immer dringlicher wird. 12. Nichts von dem, was über die Religionen gesagt wurde, kann heute aufrechterhalten werden, da diejenigen, welche Verteidigungsreden hielten oder Verleumdungen in die Welt setzten, die innere Veränderung im Menschen bereits seit langem nicht mehr wahrnehmen. Wenn sich einige die Religionen als einschläfernd für die soziale und politische Aktivität vorgestellt haben, so treffen sie heute auf ihre mächtigen Impulse eben gerade in diesen Bereichen. Wenn andere sie sich vorgestellt haben, wie sie ihre Botschaft aufgezwungen haben, so stellen sie fest, dass sich ihre Botschaft verändert hat. Diejenigen, die glaubten, dass sie für immer bestehen würden, zweifeln heute an ihrer “Ewigkeit”, und diejenigen, die von ihrem baldigen Verschwinden ausgegangen sind, wohnen heute überrascht dem Einbruch von offensichtlich oder verdeckt mystischen Formen bei. 13. In diesem Bereich gibt es sehr wenige, die erahnen, was die Zukunft bringen wird. Denn selten sind diejenigen, die sich der Aufgabe widmen, zu verstehen, in welche Richtung die menschliche Intentionalität voranschreitet, die letztendlich das menschliche Individuum transzendiert. Wenn der Mensch möchte, dass sich etwas Neues «zeigt», dann deshalb, weil es bereits in seiner inneren Landschaft wirkt und danach strebt, «sich zu zeigen». Aber der Anspruch, Vertreter eines Gottes zu sein, führt keineswegs dazu, dass sich die innere Empfindung des Menschen in eine Wohnstätte oder eine Landschaft eines transzendenten Blickes (einer transzendenten Absicht) verwandelt.
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