Das Scheitern


...Nach vielen Tagen entdeckte ich diesen großen Widersinn: Diejenigen, die den Misserfolg in ihren Herzen trugen, konnten den letzten Sieg erringen; diejenigen, die sich als Sieger fühlten, blieben wie Pflanzen auf dem Weg zurück, die ein diffuses und dumpfes Dasein führen... (aus „Der Innere Blick“, Silo)

Aus Psychologie I, Notizen zur Psychologie

Das Bewusstsein neigt gegenüber der Welt dazu, diese durch ein komplexes Antwortsystem auf strukturierte Weise auszugleichen. Einige durch die Zentren ausgedrückten Antworten gelangen direkt zur Gegenstandswelt, aber andere bleiben im Bewusstsein und erreichen die Welt indirekt durch gewisse Verhaltensäußerungen. Diese Kompensationen des Bewusstseins neigen dazu, das innere Milieu gegenüber dem äußeren ins Gleichgewicht zu bringen. Eine solche Verknüpfung ergibt sich aus Anforderungen, die an das Individuum gestellt werden, wenn es auf eine komplexe Welt, die natürlich, menschlich, sozial, kulturell, technisch usw. ist, schnell antworten soll.

Der „Tagtraumkern“ entsteht als eine wichtige ausgleichende Antwort, und die „sekundären Tagträume“ als spezifische Antworten auf diese Anforderungen. Tagträume können bildlich vorgestellt werden, nicht so der Kern, der als ein andeutendes Klima wahrgenommen wird, während er sich  mit der Zeit aufbaut und an Kraft gewinnt, den persönlichen Tendenzen und Bestrebungen eine Richtung zu geben.

In der Etappe, in welcher der Tagtraumkern seine Kraft verloren hat, wenn er den Psychismus nicht länger in eine Richtung lenkt, können die Formen und Bilder, die er angenommen hat, beobachtet werden. Aus diesem Grund kann der Tagtraumkern leichter am Beginn und am Ende seines Prozesses bemerkt werden, aber nicht mitten drin, wenn er die psychischen Aktivitäten am stärksten lenkt. So ergibt sich das Paradox, dass der Mensch unfähig ist, das wahrzunehmen, was sein Verhalten am meisten bestimmt, da der Tagtraumkern als ein Hintergrund wirkt, der umfassend auf die vielfältigen Anforderungen des täglichen Lebens antwortet.

Der Tagtraumkern bestimmt die Bestrebungen, Ideale und Illusionen, die sich in jedem Lebensabschnitt ändern. Entsprechend diesen Änderungen oder Variationen im Tagtraumkern richtet sich das Dasein in eine andere Richtung aus, was von gleichzeitigen Persönlichkeitsänderungen begleitet wird.

 Dieser Tagtraumkern nutzt sich individuell ab, ebenso wie sich Tagtraumkerne eines Zeitalters, welche die Handlungen einer ganzen Gesellschaft gelenkt haben, abnutzen. Während der Kern einerseits eine allgemeine Antwort auf die Anforderungen der Umgebung gibt, gleicht er andererseits die Grundschwächen und -mängel der Persönlichkeit aus, wobei er dem Verhalten eine bestimmte Richtung einprägt. Diese Richtung kann abhängig davon eingeschätzt werden, ob sie dem Weg der wachsenden Anpassung folgt oder nicht.

Die Tagträume und der Kern prägen ihre Suggestionskraft dem Bewusstsein auf und erzeugen die charakteristischen Blockierungen der Kritik- und Selbstkritikfähigkeit, die den unterhalb der Wachheit liegenden Ebenen eigen sind. Aus diesem Grund ist jede direkte Konfrontation mit oder Opposition zur Suggestivkraft des Tagtraumkerns zwecklos, weil dieser so seine Zwangshandlung lediglich verstärkt. Die Möglichkeit, einen Richtungswechsel in evolutionärem Sinne zu erzeugen, liegt darin, schrittweise Veränderungen durchzuführen. Der Kern kann zurückweichen oder sich fixieren. Im ersten Fall kehrt der Psychismus zu früheren Etappen zurück, wobei sie so die Nichtübereinstimmung zwischen der Entwicklung und der  Umgebungssituation vergrößert. Im zweiten Fall, wenn der Kern sich fixiert, wird das Individuum von seiner Umgebung zunehmend getrennt, wobei ein der Dynamik der Ereignisse nicht angepasstes Verhalten erzeugt wird.

Der Tagtraumkern bringt den Menschen dazu, Trugbilder zu verfolgen, die, wenn sie nicht erfüllt werden, schmerzvolle Zustände erzeugen (Ent-Täuschung), während eine teilweise Erfüllung angenehme Situationen erzeugt. So entdecken wir, dass an der Wurzel des psychologischen Leidens die Tagträume und ihr Kern liegen.

Im großen Scheitern, wenn Erwartungen zusammenbrechen und Trugbilder verblassen, taucht die Möglichkeit einer neuen Richtung im Leben auf. In solch einer Situation tritt der „Schmerzknoten“ ans Licht, dieser biographische Knoten, unter dem das Bewusstsein seit so langer Zeit gelitten hat.

Diesen entscheidenden Moment im Leben und insbesondere in der Entwicklungsarbeit einer Person wird mit Hilfe von Allegorien im Kapitel “Die Inneren Zustände” im Buch “Der Innere Blick”, von Silo folgendermaßen beschrieben:”: 

“... Von Fehlschlag zu Fehlschlag kannst du zur nächsten Raststätte gelangen, die „Wohnstätte der Abzweigung“ heißt. Achte auf die zwei Wege, die du jetzt vor dir hast. Entweder du nimmst den Weg der Entschlossenheit, der dich zur Erzeugung führt, oder du nimmst den Weg des Ressentiments, der dich aufs Neue zum Rückschritt hinabsteigen lässt.

Hier bist du vor folgendes Dilemma gestellt: Entweder du entscheidest dich für das Labyrinth des bewussten Lebens (und tust es mit Entschlossenheit), oder du kehrst voller Ressentiment zu deinem früheren Leben zurück. Zahlreich sind diejenigen, denen es nicht gelungen ist, sich zu überwinden, und die sich hier ihre Möglichkeiten abschneiden”.

Aus einer anderen Perspektive hat Silo das Thema des Scheiterns in seiner Rede am 4. Mai 2004 in Punta de Vacas im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Veränderung betrachtet.

„Wir sind gescheitert...! Aber wir bleiben beharrlich!

Wir sind gescheitert, aber beharren auf unserem Projekt, die Welt menschlich zu machen. Wir sind gescheitert und werden noch einmal und noch tausendmal scheitern, denn wir werden von  den Flügeln eines Vogels namens "Versuch" getragen, der über die Enttäuschungen, die Schwächen und die Kleinigkeiten hinweg fliegt.

Aus dem Glauben an unsere Bestimmung, aus dem Glauben an die Gerechtigkeit unseres Handelns, aus dem Glauben an uns selbst, aus dem Glauben an den Menschen entsteht die Kraft, die unseren Flug antreibt.

Da weder das Ende der Geschichte, noch das Ende der Ideen, noch das Ende des Menschen und genauso wenig der endgültige Sieg der Bosheit und der Manipulation eingetreten ist, können wir weiter versuchen, die Dinge und uns selber zu verändern.“


Bibliographie:
Der Innere Blick. Die Erde Menschlich Machen. Gesammelte Werke I. Silo

Psychologie I. Notizen zur Psychologie. Gesammelte Werke II. Silo
Rede Silos auf der Jahresfeier von Silos Botschaft in Punta de Vacas, 4. Mai 2004. www.silo.net

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